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Pionier in Sachen Inklusion

von Christine Reith

Eine Schule ohne Klassenzimmer und Türen. 60 Kinder in einer Lerngruppe, davon ein Drittel mit Lernbeeinträchtigungen. Wer denkt sich denn so was aus? Hanno Henkel, seit 29 Jahren Schulleiter der Antonius von Padua Schule, hat schon immer Bestehendes in Frage gestellt und neue Wege beschritten. Jetzt geht der 66-Jährige in den Ruhestand.

Eigentlich wollte Hanno Henkel Mönch werden. Er mochte die Vorstellung, dass Arbeit und Privates dann nicht getrennt voneinander existieren. Sondern dass ein erfülltes Leben alle Bereiche gleichermaßen umfasst. Gelandet ist er mit dieser Idee in der Sonderpädagogik, wo er sich mit seinem ganzen Wesen eingebracht hat – und es nicht ganz so streng und hierarchisch zuging wie in der Ordenswelt. Denn Hanno Henkel ist ein Freigeist, ein Denker und Intellektueller, hat Philosophie und Theologie studiert und später Förderschul-Pädagogik.

Die Padua-Schule als Erfolgsmodell

Nach Stationen in der Jugendhilfe und an einer Gesamtschule in Eiterfeld findet Hanno Henkel 1994 zum Netzwerk antonius und übernimmt dort die Leitung der Antonius von Padua Schule. Übrigens als erster Mann und erster Weltlicher, denn seit der Schulgründung 1905 standen stets Vinzentinerinnen an der Spitze. Dass antonius von Beginn an eine Schule hatte und die Oberin eine Lehrerin und keine Krankenschwester war, zeigt den hohen Stellenwert von Bildung im Netzwerk.

Zusammen mit vielen Wegbegleiterinnen und -begleitern hat Hanno Henkel die „Heimsonderschule“ für externe Kinder geöffnet und die Grundstufe zu einer inklusiven Grundschule umstrukturiert. 2014 erfolgt die staatliche Anerkennung, 2015 zieht die inklusive Schulgemeinschaft in ein neues offenes Gebäude, dass das Unternehmen Engelbert Strauss finanziert hat. 2017 erhält die Padua-Schule den Jakob Muth-Preis für beispielhafte inklusive Bildung. „Es war enorm, nach so kurzer Zeit solch einen überregionalen renommierten Preis zu bekommen“, erinnert sich Hanno Henkel. „Ohne das Netzwerk von antonius wäre das ausgeschlossen gewesen.“

Bei antonius ist man froh, dass Hanno Henkel kein Mönch, sondern Schulleiter geworden ist. Maßgeblich hat der Sonderpädagoge das Netzwerk geprägt und dazu beigetragen, dass die Antonius von Padua Schule eine inklusive Grundschule wurde.

„Behinderung ist kein biologisches Phänomen“

Seine ersten Begegnungen mit dem Thema Behinderung hatte Hanno Henkel im Familienkreis und später als Gymnasiast tatsächlich im damaligen Antoniusheim. „Unser Religionslehrer wollte uns Akademikerkindern zeigen, dass es andere Lebenssituationen gibt als in unserer vertrauten Blase“, erzählt Hanno Henkel. Doch als Kind hatte er unangenehme Erfahrungen mit einem Verwandten mit Lernschwierigkeiten gemacht. „Obwohl es zwischenmenschlich tiefgehende Begegnungen waren, spürte ich: Das ist nicht meine Welt, ich hatte einfach Angst vor den Menschen.“

Dieser Blick auf Behinderung hat sich allerdings im Laufe seines Berufslebens radikal verändert durch Begegnungen, Aufgaben, Zufälle und eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung – etwa mit Theologie, Humanismus, Marxismus oder Neurobiologie.

Heute sagt Hanno Henkel: „Geistige Behinderung ist kein biologisches Phänomen, sondern eine gesellschaftliche Kategorie und eine definitorische Zuweisung, die veränderbar ist.“ Mit diesem Perspektivwechsel beruft sich der 66-Jährige auch auf die Sonderpädagogen Wolfgang Jantzen und Georg Feuser, denen er sich eng verbunden fühlt. „Ich habe noch geistig behinderte Kinder erlebt, die in Hühnerställen versteckt wurden und fast nicht sprechen konnten – ihnen wurde mit dem Blick auf ihre Biologie jede Förderfähigkeit abgesprochen.“ Auch heute beobachte Hanno Henkel die Ablehnung von Kindern mit Behinderung durch deren Umfeld. Noch häufiger aber sei eine Vereinsamung, Überbehütung und ein Defizit an Erziehung. „Ich habe in meinen 35 Jahren in der Sonderpädagogik kaum ein Kind erlebt, das normal erzogen wäre. Und genau dieses Vorenthalten von Normalität und die antrainierte Unselbstständigkeit verstehe ich als Behinderung.“

Seine Theorie: Wenn Kinder immer als „andersartig“ behandelt werden, entwickeln sie zwangsläufig Attitüden und Verhaltensauffälligkeiten, vor allem im Sozialen. Außerdem fehle den meisten Kindern mit Lernschwierigkeiten eine Peer-Group, um sich selbst im Spiegel von Gleichaltrigen zu entdecken und zu entwickeln. Wenn behinderte Kinder und ihre Familien nur unter sich blieben und von ihrem Umfeld nichts abverlangt bekämen, dann entstehe Behinderung.

Jeder Mensch ist anders

Aus diesen Grundgedanken – man muss Kinder mit Behinderung „normal“ behandeln, sie brauchen Gleichaltrige und alle Menschen sind gleichwertig und gleichberechtigt – heraus entwickelte Hanno Henkel die Vision einer offenen Schule, in der Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen, und zwar in einer möglichst großen Gruppe. Wie freut man sich, wie ärgert man sich, welches Verhalten ist angemessen? Das alles sollen die Kinder voneinander lernen und zugleich sollen alle den gleichen Zugang zu Lerninhalten erhalten. Eine revolutionäre Idee.

Kinder mit Behinderung würden sich so nach wenigen Monaten in ihrem Verhalten normalisieren und „enthindern“, beschreibt es der scheidende Schulleiter, und Kinder ohne Behinderung könnten Toleranz, Vielfalt und Diversität erlernen. Jeder Mensch ist anders und niemand darf wegen seiner Andersartigkeit am Rand stehen. Unter den Kindern verliere die Kategorie „Behinderung“ an Bedeutung, spiele keine Rolle mehr. Das verdeutlicht eine Anekdote vom letzten Schulsommerfest, die Hanno Henkel tief berührt erzählt: Eine Mutter wollte endlich eine Freundin ihrer Tochter kennenlernen, von der sie schon so viel gehört hatte. Was sie nicht wusste, ist, dass das Mädchen das Downsyndrom hat – für ihre Tochter war diese Information komplett unbedeutend gewesen.

Alle Kinder wollen gerne lernen

Selbstverständlich würden die Kinder nicht im gleichen Tempo arbeiten und vergleichbare Ergebnisse erzielen, erklärt Hanno Henkel, aber das sei ja auch gar nicht nötig. Es gehe vielmehr darum, allen die gleichen Chancen zu geben. Und ihre Selbstwirksamkeit und natürliche Freude am Lernen zu fördern. Zum Konzept der Padua-Schule gehört es zudem, dass alle Kinder in einem Raum unterrichtet werden, um die Peer-Group zu vergrößern. Da braucht es eine Extraportion Rücksichtnahme, Selbstverantwortung und Sozialkompetenz. Die nötige Stille zum Arbeiten entstehe ganz von selbst.

Die Antonius von Padua Schule ist ein besonderer Ort und ihr Leiter ein besonderer Mensch, der manchmal aneckt mit unbequemen Positionen. Er ist streitbar, auch provokant und sagt Sätze wie: „Downsyndrom ist überhaupt keine Behinderung, 80 Prozent der Menschen sind normal intelligent. Aber immer mehr von ihnen kommen gar nicht mehr erst auf die Welt.“ Das sitzt. Immer geht es Hanno Henkel auch darum, verborgene Machstrukturen sichtbar zu machen und „Scheininklusion“ zu verhindern. Reinen Förderschulen steht Hanno Henkel sehr skeptisch gegenüber, weil Kinder mit Behinderungen dann wieder nur unter sich seien und in einer Sonderwelt ohne Zugang zum Regelsystem verblieben. Nicht alle haben daran geglaubt, dass seine inklusive Grundschule Erfolg haben würde, und auch dass die Kinder ohne Behinderungen so gute Leistungen erbringen. Heute ist die Padua-Schule eine Modellschule, fester Bestandteil der hessischen Bildungslandschaft und mitverantwortlich dafür, dass Fulda inklusivste Stadt Deutschlands ist. In diesem Sinne wird Hanno Henkel sich auch weiterhin bei antonius einbringen, beispielweise bei der Weiterentwicklung vom antonius Hauptgelände zu einem inklusiven Stadtquartier.

Kämpfer für mehr Teilhaberechte

Für einen Kämpfer ist Hanno Henkel erstaunlich gelassen, ruhig und besonnen. Der Vater von zwei Kindern ist uneitel, nimmt sich selbst nicht so wichtig, lebt im Augenblick und stellt immer die Gemeinschaft in den Vordergrund. So kann er sich jetzt leicht auch wieder aus seinem Lebenswerk zurückziehen und andere weitermachen lassen. „Ich gehe mit einem absolut guten Gefühl in den Ruhestand“, sagt Hanno Henkel zu seinem Abschied als Schulleiter. „Ich bin dankbar für das, was ich erwirken durfte – ohne das Netzwerk und an einer staatlichen Schule wäre nichts davon möglich gewesen. Jetzt ist es Zeit zu gehen. Die Padua-Schule steht vor großen Aufgaben, vielleicht wird sie weiter wachsen, vielleicht wird auch die Mittel- und Hauptstufe inklusiv. Daran dürfen jetzt andere arbeiten. Kluge Köpfe gibt es bei antonius ja genug.“

 

Die Antonius von Padua Schule ist eine staatlich anerkannte inklusive Grundschule und Förderschule mit den Schwerpunkten Lernen und geistige Entwicklung.

 

Stimmen zu Hanno Henkel

„Ich bin sehr dankbar für alles, was Hanno Henkel für das gesamte Netzwerk von antonius geleistet hat. Schon früh hat er Behinderung und Inklusion ganz neu gedacht, daraus eigene Schlüsse gezogen, wertvolle Impulse in unser Führungsteam gebracht und Neues angestoßen – etwa den Zitronenfalter, die Startbahn oder das Unternehmer-Netzwerk Perspektiva und natürlich, vor allem, die Antonius von Padua Schule. Durch seinen Mut und sein Herz für die Menschen und unseren Auftrag hat er Grundlagen geschaffen, auf die wir aufbauen.“
Rainer Sippel, Vorstand der Bürgerstiftung antonius : gemeinsam Mensch

 

„Kaum jemand hat das Denken von antonius so geprägt wie Hanno Henkel. Unzählige Kinder – denen das Vermögen und damit auch das Zugangsrecht zu einer formalen Bildung von vornherein abgesprochen wurden – konnten durch sein Wirken nicht nur das Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Sie konnten sich vor allem auch mit ihren Potenzialen entfalten, Ich-Stärke gewinnen und letztlich ihr Leben selbst in die Hand nehmen.“
Lysann Elze-Gischel, stellvertretende Schulleiterin der Antonius von Padua Schule

 

„Hanno Henkel hat viele Visionen. Das Besondere ist, dass er diese Visionen auch in die Tat umsetzt – das ist sehr beeindruckend. Auffällig ist seine ruhige, überlegte und immer zugewandte Art. Er beobachtet viel, vor allem die Kinder, hört zu und ist an der Meinung anderer Menschen interessiert. Zugleich ist er ein Kämpfer, der trotz zum Teil heftigem Gegenwind viel für unsere Schule erreicht hat.“
Sabine Petermann, Mitglied des Elternbeirats der Antonius von Padua Schule

 

„Hanno Henkel ist eine prägende Persönlichkeit und für mich seit meiner Jugend ein wichtiges Korrektiv. Wie ein Anwalt setzt er sich für Menschen ein, die durch ihr Anderssein ausgegrenzt sind. Dabei kann er kämpferisch, streitbar und ein scharfer Kritiker sein, gleichzeitig aber auch unglaublich klug, feinfühlig, begeisterungsfähig und humorvoll. Das macht das Zusammensein mit Hanno immer interessant. Die Freundschaft mit ihm erlebe ich stets als große Bereicherung.“
Arnulf Müller, Wegbegleiter und Redaktionspartner beim Seitenwechsel-Magazin

 

Fotos: antonius/privat/Arnulf Müller

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