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"Mehr als eine einfache Lesestunde"
von Anja Hildmann
Fulda – Jeden Freitag liest Dieter Groß den Kita-Kindern im ambinius Haus bei antonius vor. Dabei entsteht ein besonderer Moment zwischen Jung und Alt, in dem Geschichten, Erfahrungen und Freude geteilt werden.
Geduldig warten die Kinder, bis die Senioren Platz genommen haben. Ist das erst einmal geschafft, wird nicht mehr lange gefackelt. Nach einem bestimmt geäußerten „So“ legt Dieter Groß los und nimmt die Kinder mit in die Abenteuer des Kinderbuch-Klassikers „Das kleine Gespenst“. Aufmerksam lauschen die Kinder der Stimme des Rentners, um zu erfahren wie die Geschichte weitergeht. Die ganze halbe Stunde stillsitzen – das kriegen die aufgeregten Kinder allerdings nicht hin. Hier und da wird ein Sitzplatz gewechselt, aus dem Fenster geschaut oder ein anderes Buch gegriffen und begutachtet. Groß ist das Interesse bei allen wieder, wenn es ein Bild zu entdecken gibt. Dafür stellen die Kinder sich gerne um den 88-Jährigen herum.
Die Aktion findet wöchentlich statt. Denn die Begegnung zwischen den Generationen ist in der ambinius Kita von antonius keine einmalige Sache. Im ambinius Haus befinden sich Kinder und Senioren nämlich unter einem Dach. Ob Vorlesen, Sitztanz oder gemeinsames Kochen und Backen: regelmäßig finden dort Veranstaltungen mit Jung und Alt statt, bei denen wertvolle Begegnungen entstehen. Dabei lernen sie voneinander, tauschen sich aus und sammeln neue Erfahrungen. Aktuell sind es vier bis fünf Angebote wöchentlich.
Für Dieter Groß ist das Vorlesen in der Kita inzwischen zu einem festen wöchentlichen Termin geworden. Jeden Freitag macht der Tagesgast der Seniorentagesstätte sich auf den Weg in die bunten Kita-Räume, wo er den Kindern eine Geschichte nach der anderen erzählt.
Das Vorlesen empfindet er nicht nur als eine Bereicherung für sich selbst, es macht ihm auch Spaß. Gleichzeitig hofft der Fuldaer, dass es auch den Kindern Freude bereitet. Das soll aber nicht der einzige Effekt sein. „Ich glaube, das bringt den Kindern auch sehr viel in ihrer Entwicklung“, sagt der Senior. „Für die Kinder ist es natürlich trotzdem manchmal ein bisschen langweilig“, gibt er zu. Aber das „liege in der Natur der Sache“.
Auch an den anderen Begegnungen, etwa den Koch- und Backaktionen, nimmt Groß regelmäßig teil und erkennt darin eine große Chance: „Die Kinder lernen von den Alten die Erfahrung – und vielleicht auch die Abgeklärtheit“, sagt er schmunzelnd. Die Senioren auf der anderen Seite müssten sich daran gewöhnen, dass die Kinder „ganz anders gelagert sind“.
„Eine Vorleseaktion zwischen einem Senior und einer Kita-Gruppe ist mehr als eine einfache Lesestunde. Sie verbindet Generationen, stärkt soziale Bindungen und fördert wichtige Kompetenzen auf beiden Seiten. Für die Gesellschaft im Allgemeinen stellt sie ein Modell für ein respektvolles und integratives Miteinander dar“, sagt Pflegedienstleiter Viktor Wall.
Durch das Vorlesen übernehmen Senioren eine aktive Rolle, was ihr Selbstwertgefühl stärkt und das Gefühl der gesellschaftlichen Teilhabe fördert. Das Vorlesen und der Austausch mit den Kindern stimulieren außerdem das Gehirn, halten die kognitiven Fähigkeiten wach und wirken präventiv gegen Isolation und Einsamkeit. Die fröhliche und neugierige Art der Kinder bringt überdies Freude und Abwechslung in den Alltag der Senioren.
Die Kinder auf der anderen Seite profitieren von der sprachlichen Vielfalt und dem Wortschatz des Seniors. Das Vorlesen verbessert ihre Hör- und Konzentrationsfähigkeit und regt die Fantasie an. Aber auch soziale und kulturelle Kompetenzen werden gefördert: Die Interaktion mit älteren Menschen vermittelt Respekt und Empathie gegenüber anderen Altersgruppen. Oft teilen Senioren Geschichten, die kulturelles Wissen oder persönliche Erfahrungen enthalten, wodurch Kinder Einblicke in andere Lebensrealitäten und historische Perspektiven erhalten.
Vor allem aber entstehen hierbei persönliche Beziehungen, die dazu beitragen, ein soziales Netzwerk in der Bürgerschaft zu schaffen – getragen unter anderem von bürgerlichem Engagement. Für Dieter Groß steht jedenfalls fest, dass er den Kindern auch in Zukunft regelmäßig vorlesen möchte, „wenn ich darf“.
Fotos: Roman Herget für antonius