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Mehr als 70 Jahre zuhause bei antonius

Von Christine Reith

Strahlend blaue Augen, bescheiden in ihrem Wesen, ein Lächeln über das ganze Gesicht: So begrüßt Maria Herget ihren Besuch zum Gespräch. Die fast 90-Jährige hat beinahe ihr ganzes langes Leben bei antonius verbracht – auch wenn  sie keine Behinderung hat. Kurz vor ihrem runden Geburtstag verlässt Maria Herget jetzt das Netzwerk und zieht zu ihrer Familie nach Spahl im nahen Thüringen. Ein guter Zeitpunkt, um ihr Leben bei antonius Revue passieren zu lassen. Und natürlich, um zu fragen: Wie war das damals eigentlich?

Im Haupthaus von antonius, ganz oben unter dem Dach und mit bester Aussicht auf Fulda, wohnt Maria Herget in einem kleinen Apartment. An der Wand hängen Marienbilder, ein Rosenkranz liegt auf der Häkeltischdecke, alles strahlt Ruhe und Ordnung aus. Kurz vor ihrem 90. Geburtstag steht der kleinen Frau eine große Veränderung bevor: Ihr Auszug bei antonius und Umzug zu ihrer Schwester in die alte Heimat, das thüringische Spahl. Das Erstaunliche ist: Wenn Maria Herget ihr Hab und Gut zusammenpackt, hat sie 73 Jahre bei antonius gelebt und 67 Jahre bei antonius gearbeitet. Wie kam das?

„Es war nicht immer einfach, aber es war immer schön“

Geboren wurde Maria Herget als ältestes Mädchen unter 13 Geschwistern. Der Vater war Waldarbeiter, die Mutter führte eine kleine Landwirtschaft, Armut prägte die Verhältnisse. Als die kleinsten Geschwister aus dem Gröbsten heraus waren, schickten die Eltern die 17-jährige Maria „in Anstellung“, zum Geldverdienen in den Westen. Illegal reiste Maria 1950 in Begleitung ihrer großen Brüder über die frisch errichtete innerdeutsche Grenze und landete über Bekannte – also eher durch Zufall – in der Küche von antonius.

Fleißig, gehorsam, mit schwerer Arbeit vertraut: So beschreibt sich Maria Herget als junge Frau. Trotzdem musste sie dafür Spott ertragen: „Taubes Hinkel“, also taubes Huhn habe man sie genannt, weil sie immer alles machte, was man ihr sagte. Das ficht sie nicht an. Die Arbeit in der Küche – in der auch Menschen mit Behinderungen arbeiteten – ging ihr leicht von der Hand, sie war sich für nichts zu schade und kam mit allen gut zurecht. So fand Maria ihren Platz in der antonius Gemeinschaft, die ihr bald zu einem echten Zuhause wurde. Dazu trugen auch die Vinzentinerinnen bei, etwa Schwestern Gregoria, Theofreda und Reinhildes oder die ehemalige Oberin Schwester Adolfine.

Morgens um 5 Uhr den Kohleofen anfeuern und Malzkaffee vorbereiten für die Wohngruppen. Dann das Mittagessen kochen für rund 200 Kinder sowie Angestellte. Und am Nachmittag Zwetschgenmus oder Blutwurst einkochen, im Garten und auf dem Feld helfen oder Kohlen schippen – in der Nachkriegszeit waren die Tage lang und arbeitsreich. Erst ab den 70er Jahren erleichterten Elektrogeräte wie Herd, Gefrierschrank und Spülmaschine die Arbeit. Dennoch fand Maria Herget immer irgendwie noch die Zeit, um Sport zu treiben und sich um die Jungen und Mädchen vom „Antoniusheim“ zu kümmern. Sie machte Gymnastik im Verein, lief bis zur Freiherr-vom-Stein-Schule zum Training und bot dann selbst Gymnastikgruppen für Kinder bei antonius an. Auch Schwimmen und Radfahren wurden ihr zur Leidenschaft und liebgewonnenen Beschäftigung mit den Heimkindern. Ebenso hat man zusammen Fasching und Kirmes gefeiert. „antonius war immer wie eine Großfamilie für mich, dafür bin ich tief dankbar“, beschreibt Maria Herget das Zusammenleben.

Natürlich pflegte sie auch den Kontakt zur eigenen Herkunftsfamilie: Besuche waren während der deutschen Teilung zwar nur alle paar Jahre möglich. Doch man schrieb sich Briefe, und Maria schickte den Hauptteil ihres Lohnes und regelmäßig auch Lebensmittelpakete zu den Eltern. So trug die junge Frau ihren Teil dazu bei, dass die Geschwister gut aufwachsen konnten. Bis ins hohe Alter hinein lebte sie sparsam und verschenkte einen Teil ihres Geldes, etwa an Verwandte oder die Mission in Afrika. Gearbeitet in der antonius Küche hat sie übrigens bis zum 84. Lebensjahr.

„Es waren mir immer alle Menschen gleich“

Ihr erstes Zimmer bezog Maria Herget 1950 im Haupthaus von antonius – zusammen mit einer jungen Gehörlosen. Die Verständigung und das Zusammenleben klappten trotzdem gut. Ob sie jemals Vorbehalte oder Berührungsängste im Umgang mit Menschen mit Behinderungen hatte, die Seite an Seite mit ihr lebten und arbeiteten? Mit dieser Frage kann Maria Herget überhaupt nichts anfangen: „Es waren mir immer alle Menschen gleich“, sagt sie. „Ich habe alle Männer, Frauen und die Heimkinder behandelt wie die gesunden Leute auch.“

Schon Anfang der 50er Jahre lernte Maria Herget Annie Gerhard kennen, die im Krankenhaus – das bei antonius einquartiert war – und später an der Pforte von antonius arbeitete. Sie sollte ihre engste Freundin werden. Mehr als 50 Jahre wohnte sie mit ihr zusammen die vergangenen zehn Jahre im Dachapartment im Haupthaus von antonius.

Auf die Frage, warum Maria Herget nie eine eigene Wohnung oder eine eigene Familie mit Mann und Kindern wollte, antwortet sie: „Ich war nie für die Ehe gemacht, und bei antonius hatte ich es immer gut. Natürlich war kurz nach dem Krieg alles sehr einfach und bescheiden, aus heutiger Sicht ärmlich. Aber die Menschen waren sehr freundlich zueinander und es war immer was los.“ Neben der Gemeinschaft hat vor allem die Religion Maria Herget immer Halt gegeben. Damals mit den Vinzentinerinnen und später mit den Dienerinnen der Armen sowie mit den Franziskanern vom Frauenberg, die als Seelsorger bei antonius tätig sind, pflegt sie ein enges Verhältnis. Noch heute betet sie täglich den Rosenkranz und besucht möglichst jede Andacht im Haus.

Nach dem Tod der Freundin Annie im Sommer 2021 ist es ruhig geworden im Doppelapartment unter dem Dach. Sich eine neue Mitbewohnerin zu suchen – das kann sich Maria nicht mehr vorstellen. Außerdem: Beerdigt werden möchte sie sowieso in Spahl, dann kann sie da ja auch jetzt schon hinziehen. Und so verlässt Maria Herget antonius ebenso pragmatisch wie sie 1950 hier angekommen ist. Sie freut sich darauf, zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben wieder bei der Familie zu leben. antonius wird sie zwar vermissen, ihren Dienst hier hat sie jedoch mehr als getan.

Fotos: Steffen Wassmann

 

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