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Kinder mit seelischen Behinderungen leiden besonders unter Corona
von Claus Peter Müller von der Grün
Kinder mit einem besonderen Unterstützungsbedarf leiden vermehrt unter den Corona-Restriktionen. Das zeigen nach den Worten von Daniel Hofmann, Leiter der Schulbegleitung, unsere Erfahrungen. Daniel Hofmann verweist zum Beispiel auf Schulbegleiterin Renate Siebald, die seit vier Jahren Kinder in unterschiedlichen Schulformen begleitet, sowie auf Bianca Schäfer. Sie ist Erzieherin, war selbst Schulbegleiterin in unserem Netzwerk, und sie ist zweifache Mutter. Eines ihrer Kinder hat eine Schulbegleitung. Für Karsten Vollmar wiederum, stellvertretender Direktor der Gesamtschule Geistal im Landkreis Hersfeld-Rotenburg, ist „die Schulbegleitung für jene Kinder, die diese brauchen, ein ganz wichtiger Beitrag zu ihrem schulischen Erfolg, wenn nicht der Dreh- und Angelpunkt in ihrer schulischen Laufbahn“
Die Schulbegleiterin Renate Siebald beobachtet, dass Kinder mit einer sozialen, emotionalen und seelischen Behinderung, die im Schulalltag von einer Bezugsperson begleitet werden, unter den Restriktionen zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus noch mehr als andere Kinder leiden. Aktuell betreut Renate Siebald ein Kind an einer Förderschule im Kreis Hersfeld-Rotenburg. Sie sagt: „Die Schwachen haben es schwer, wenn die Unterstützung fehlt.“ Nicht alle Kinder an einer Förderschule haben einen Schulbegleiter, sondern Kindern mit einer bestimmten Behinderung kann für eine bestimmte Zeit – unabhängig von der Schulform - ein Schulbegleiter zur Seite gestellt werden. Kinder, wie sie Renate Siebald betreut, haben zum Beispiel eine Autismus-Spektrum-Störung, ADHS oder spezifische sozial emotionale Einschränkungen. Sie fordern Aufmerksamkeit und Beachtung ein und reagieren in bestimmten Situationen mit großer Unruhe, Angst oder Aggressivität. Renate Siebald versucht, sich in das jeweilige Kind hineinzudenken, Vertrauen aufzubauen, und das Kind auch ohne Worte zu verstehen.
Den Kindern fehlt die familienähnliche Gemeinschaft der Förderschule
Die Schule, sagt die Mutter von vier Söhnen, sei für die Kinder, die sie betreue, sehr wichtig, weil sie hier kontinuierlichen Kontakt zu anderen Menschen finden, „die auch etwas nicht können“. Die Lehrer an der Förderschule bieten den Kindern nach der Beobachtung von Renate Siebald eine familienähnliche Gemeinschaft und fördern die Schüler mit großem Erfolg, indem sie die Schüler meist zum Hauptschulabschluss oder sogar zum qualifizierten Hauptschulabschluss führen.
Im Rückblick auf die zurückliegenden zwölf Monate mit Corona fehlt nach dem Eindruck der Schulbegleiterin den Kindern die Kontinuität in den sozialen Kontakten. Von Mitte März 2020 an war die Schule bis in den Juni geschlossen. Vor den Sommerferien 2020 kamen die Kinder für kurze Zeit wieder zur Schule. Nach den Sommerferien begann bis in den Dezember für die Schüler eine „stabile Phase“. Vor Weihnachten wurden die Schulen wieder geschlossen, und von Mitte Februar 2021 an sollen die Kinder am Wechselunterricht in halber Klassenstärke teilnehmen. „Vermutlich wissen wir dann erst nach den Sommerferien 2021, wo die Kinder stehen“, sagt Renate Siebald.
Schüler vermissen das Gefühl des gemeinsamen Erfolgs
Die Lehrer an der Förderschule geben sich nach den Worten der Schulbegleiterin größte Mühe, das Homeschooling zu organisieren, aber die Schüler litten unter dem fehlenden Kontakt zu den Lehrern, im Einzelfall zum Schulbegleiter und unter dem Wegfall von Fächern, in denen diese Kinder vom Gefühl getragen werden: „Wir haben das gemeinsam erreicht“ wie Sport und Musik.
Das Tragen der Maske, „das macht was mit den Kindern“, sagt Renate Siebald. Denn die Kinder erkennten die Mimik der anderen nicht und könnten deren Körpersprache nicht mehr lesen. Die ohnehin schon vielfach verunsichernde Angst der Kinder werde durch Corona noch gesteigert. Die Einhaltung der Hygieneregeln – wie das Händewaschen – benötige viel Zeit, die den Kindern für gemeinsame Lernerfahrungen verloren gehe.
Aufgrund fehlender Kontakte zu Gleichaltrigen und Bezugspersonen fehle gerade diesen Kindern, neben der Vermittlung von Lerninhalten, besonders das Lernen in sozial emotionalen Situationen wie zum Beispiel das Zurückstellen eigener Bedürfnisse und der angemessene Umgang mit Konflikten.
Renate Siebald vermutet, dass nach einer so langen Phase der Restriktionen insbesondere Kinder mit sozial emotionalen Beeinträchtigungen einige Zeit benötigen werden, um sich mit Hilfe der Schulbegleitung in das Gefüge Klasse wieder einbinden zu lassen.
Den Kindern fehlt die Tagesstruktur
„Corona ist für jedes Kind eine Herausforderung, aber für Kinder mit einem besonderen Hilfebedarf ist es eine besonders große“, sagt Bianca Schäfer. Sie ist Erzieherin, war selbst Schulbegleiterin in unserem Netzwerk, und sie ist zweifache Mutter. Eines ihrer Kinder hat eine Schulbegleitung. Bianca Schäfer sagt, den Familien und den Kindern fehle derzeit die Perspektive. Kinder mit einem Hilfebedarf verunsichere die derzeitige Ungewissheit noch mehr als die Kinder ohne Hilfebedarf. Den Kindern mit Schulbegleitung fehle die Tagesstruktur. Sie müssten sich selbst organisieren, aber genau das falle ihnen schwer. Sie reagierten mit einem sozialen Rückzug auf die gegenwärtigen Lebensumstände. Zur Angst vor einer Infektion mit dem Virus komme die Angst, andere womöglich anzustecken. Der Kontakt mit anderen Kindern fehle, denn auf dem Schulhof lernten die Kinder ebenso viel fürs Leben wie im Klassenzimmer. „In Nuancen positiv“ sei der online-Unterricht, denn er erleichtere die Konzentration auf den Schulstoff. Positiv sei es, wenn der Schulbegleiter das Kind während des Homeschoolings zu Hause begleiten könne. Das sei eine Bereicherung für die Beziehung zwischen Kind und Schulbegleiter und erleichtere auch die Elternarbeit. Eltern und Schulbegleiter rückten näher zusammen, anstatt sich allein zum Hilfeplangespräch zu treffen.
„Leistungsmäßig sind die Kinder gut aufgestellt“
„Natürlich nehmen wir Kinder auf, die am besten mit Schulbegleitung durch ihre Schulzeit kommen“, sagt Karsten Vollmar, stellvertretender Direktor der Gesamtschule Geistal. Die Erfahrungen mit der Schulbegleitung seien – bis auf wenige Ausnahmen – nur positiv, und „leistungsmäßig sind die Kinder gut aufgestellt“. Unter den 420 Schülern der kooperativen Gesamtschule Geistal im Landkreis Hersfeld-Rotenburg mit den Klassenstufen fünf bis zehn sind derzeit zwei Kinder mit Schulbegleitung, darunter eines mit der Eignung für den Besuch des Gymnasialzweigs, berichtet Karsten Vollmar.
Niemals Probleme mit den Eltern anderer Kinder
Nach der Schilderung des Pädagogen zeigen manche dieser Kinder verschiedene Verhaltensmuster, auf die man individuell reagieren müsse. Von stark die Gemeinschaft suchenden Kindern bis zum Drang der Selbstisolierung im nächsten Moment sei alles dabei. Die besonderen Bedürfnisse der Kinder werden früh und offen in der Klasse und am Elternabend besprochen, berichtet Karsten Vollmar: „Auch deshalb hatten wir niemals Probleme mit den Eltern der anderen Kinder, Beschwerden oder Klagen, dass das Kind mit der Schulbegleitung etwa ein Bremsklotz sei.“
Die Befugnisse der Begleitperson müssen geklärt sein
Unter den Schulbegleitern seien seit fünf Jahren Mitarbeiter von antonius. Wenn eine Begleitung mit in die Klasse komme, sei es entscheidend, dass die Aufgaben gut abgesprochen werden. „Welche Kompetenz und Befugnisse hat der Begleiter? Darf oder soll er sich auch um die anderen Kinder kümmern? Eine professionelle, echte Hilfe braucht eine gute Absprache“, urteilt Karsten Vollmar. Problematisch könne es werden, wenn sich die Schüler dem Begleiter stärker anvertrauten als der Lehrkraft. Doch bedeutsamer als eine solche Befürchtung sei der Zugewinn an Kompetenz, indem der Lehrer wisse, wenn es ein Problem geben sollte mit einem Kind, das einen besonderen Betreuungsbedarf hat, dann sei er nicht allein, sondern es sei eine Person anwesend, die dieses Kind besonders gut kenne. „Wenn wir Inklusion leben wollen an unseren Schulen, dann kann die Schulbegleitung ein wichtiges Instrument sein, um unser Ziel fokussiert und gut zu erreichen“, sagt Karsten Vollmar. Für die Schulen sei Schulbegleitung ein ganz wichtiger Bestandteil der Arbeit: „Wenn wir diesen Kindern eine Chance geben wollen, ist Schulbegleitung dafür die beste Voraussetzung, und sie darf nicht an den dafür notwendigen Mitteln scheitern.“
antonius hat schon 180 Kinder und Jugendliche in der Schule begleitet
Derzeit sind es 90 Schüler, für die antonius einen Begleiter stellt. 75 Prozent dieser Schüler werden an Grundschulen begleitet, 20 Prozent haben den Schritt zur weiterführenden Schule schon genommen und 5 Prozent besuchen eine Förderschule.
Die Zahl der Fälle verteilt sich zu etwa gleichen Teilen auf die Landkreise Fulda und Hersfeld-Rotenburg. Die Tatsache, dass unsere Hilfe aus Fulda im Nachbarkreis so stark nachgefragt wird, wertet Daniel Hofmann als Beleg für die Qualität unseres Engagements und seinen Schulbegleitern.
Von 2011 an bis heute haben wir etwa 180 Kinder und Jugendliche im Schulalltag begleitet – einschließlich der gegenwärtig 90 Schüler. Von den insgesamt 180 Schülern haben seit 2011 nunmehr 50 ihre Schullaufbahn selbständig weitergeführt, ohne weitere Unterstützung durch eine Schulbegleitung.
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