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"Ich will nicht vom Amt leben"
Von Christine Reith
Melanie Prasch hat Power. Die junge Frau gehört seit 2005 zum antonius Netzwerk und hat immer dafür gekämpft, so selbstbestimmt und unabhängig wie möglich zu leben. Dazu zählt für sie auch ein ganz normaler Job: Seit Januar dieses Jahres ist die Kantinenmitarbeiterin sozialversicherungspflichtig bei antonius angestellt und nimmt das „Budget für Arbeit“ in Anspruch – als eine der Ersten im gesamten Landkreis.
Melanie Prasch strahlt. Gerade hat sie Kaffee gekocht und die ersten Kantinengäste des Tages mit frischbelegten Brötchen und Snacks aus der heißen Theke versorgt. Ihre unkomplizierte Art kommt gut an bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Hubtex, einem Hersteller von Seitenstaplern und spezialgefertigten Flurförderzeugen im Fuldaer Industriegebiet West, dessen Kantine antonius seit Januar 2021 betreibt. Gäste und Kantinenmitarbeiter begegnen sich auffallend freundlich, entspannt und wohlwollend, man grüßt sich herzlich und hält immer wieder ein kleines Schwätzchen. Jeden Morgen kommt die Geschäftsleitung, um die Kantinenmitarbeitenden persönlich zu begrüßen, und zum Geburtstag gibt es für jeden einen Blumenstrauß.
Melanie Prasch jedenfalls fühlt sich hier wohl. Die 35-Jährige mit einer Lernbehinderung ist seit 2005 Teil des Netzwerks von antonius. Nach einer Ausbildung in der ehemaligen Tagesförderstätte TagWerk im Themenbereich Begleitung sowie Hol- und Bringdienste hat sie in der Cafeteria der Freiherr-vom-Stein-Schule und später in der Telekom-Kantine gearbeitet. Doch erst mit ihrem Start in der Hubtex-Kantine ist ihr ein wichtiger und langersehnter Schritt gelungen – der Wechsel in den allgemeinen Arbeitsmarkt, denn seitdem ist sie in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis. „Ich wollte unbedingt eine ganz normale Angestellte werden“, sagt die antonius-Mitarbeiterin. „Die Aufgaben sind zwar gleich, aber gefühlt trage ich jetzt mehr Verantwortung, werde voll mit einbezogen und bin mit den Kolleginnen und Kollegen komplett auf Augenhöhe. Ich habe natürlich auch Freiheiten und Rechte aufgegeben, zum Beispiel auf Erwerbsminderungsrente oder Therapietermine während der Arbeitszeit. Aber das ist es mir auf jeden Fall wert, denn ich will einfach nicht mehr vom Amt leben und verdiene so auch mehr Geld.“
Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt
Als eine der Ersten im Landkreis Fulda bekommt Melanie Prasch das sogenannte Budget für Arbeit. Die Förderung soll Menschen mit Behinderungen eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglichen – etwa als Alternative zur Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Das Budget für Arbeit umfasst einen Lohnkostenzuschuss an den Arbeitgeber sowie Beratungsleistungen, die Melanie Prasch derzeit allerdings gar nicht in Anspruch nimmt. Unterstützung bei Fragen und Anliegen holt sie sich lieber bei Kirsten Frankenbach vom Fachdienst Teilhabeplanung bei antonius. „Melanies Laufbahn ist wirklich beeindruckend“, sagt die Sozialpädagogin. „Sie wollte unbedingt in den allgemeinen Arbeitsmarkt und hat über viele Jahre hinweg zielstrebig darauf hingearbeitet, sich weiterzuentwickeln. Durch unsere Unterstützung und ihre eigene Kraft übernimmt sie immer verantwortungsvollere Aufgaben und ist dabei absolut zuverlässig und selbstbewusst. Mittlerweile ist sie zudem in eine eigene kleine Wohnung auf dem antonius Campus umgezogen – denn neben dem Beruf war das Alleinewohnen für Melanie immer wichtig.“
Auch Gaby Kirsch, die die Betriebskantine von Hubtex leitet und Melanie Prasch schon länger eng begleitet, freut sich über die positive Entwicklung: „Melanie ist für mich mittlerweile wie jede andere Mitarbeiterin. Ich kann sie für sämtliche Aufgaben einsetzen – von der Essensausgabe über die Speisenzubereitung bis zum Verkauf – und mich immer voll auf sie verlassen. Sie hat den Kantinenschlüssel und ist morgens um 6 Uhr die Erste, die hier ist. Ich weiß noch, wie ich damals mit ihr Rechnen geübt habe – wir haben wirklich mit den einfachsten Grundlagen wie eins plus eins angefangen – und heute macht sie den kompletten Kassensturz, überwacht das Wechselgeld und bringt die Einnahmen zur Rechnungsstelle. Das sind sehr komplexe Aufgaben!“
antonius und das Unternehmernetzwerk Perspektiva rücken das Budget für Arbeit beziehungsweise das Budget für Ausbildung derzeit stärker in den Fokus. Das übergeordnete Ziel ist, für jeden Menschen einen passgenauen Arbeitsplatz nach seinen Fähigkeiten, Wünschen und Bedürfnissen zu finden oder zu schaffen. Dabei kann die Unterstützung des Arbeitsamtes ein wichtiges Hilfsmittel sein. Das Budget für Arbeit, das derzeit neben Melanie Prasch noch eine weitere Person aus dem antonius-Netzwerk in Anspruch nimmt, gleicht dem Arbeitgeber die Minderleistung des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin finanziell aus und unterstützt durch eine pädagogische Beratung. Das Budget für Ausbildung geht einen Schritt weiter und bietet weiterreichende Möglichkeiten, den jungen Menschen intensiv beim Übergang auf den ersten Arbeitsmarkt zu begleiten und Hemmnisse gezielt zu überwinden. In ganz Hessen beziehen derzeit sieben Auszubildende das Lehrlings-Budget, fünf davon von antonius in Fulda. Warum Fulda hier Vorreiter ist? Perspektiva steht Unternehmern, die Menschen mit Behinderungen einen festen Arbeits- oder Ausbildungsplatz anbieten möchten, besonders eng zur Seite und bietet Beratung, Vermittlung, Unterstützung – zum Beispiel bei Behördengängen oder Anträgen – und 20-jährige Erfahrung bei der beruflichen Förderung von Jugendlichen mit Behinderung. So fällt es Firmen in der Region leichter, Menschen mit Behinderungen einzustellen.
Kantinen als Orte der Begegnung
Doch zurück zu Melanie Prasch und ihren Kolleginnen und Kollegen hinter der Kantinentheke. Mit der Hubtex-Kantine betreibt antonius insgesamt sieben Schulcafeterien und Firmenkantinen im Landkreis Fulda. Ziel ist es, mit den Kantinenbetrieben Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen, aber vor allem auch inklusive Orte der Begegnung zu schaffen. „Unsere Vision ist das alltägliche und ganz selbstverständliche Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen“, sagt Sozialpädagogin Kirsten Frankenbach von antonius. „Das gelingt vor allem bei den jungen Menschen in den Schulen besonders gut. Aber auch hier bei Hubtex habe ich das Gefühl, dass die Behinderungen keine Rolle spielen und der Mensch als Mensch gesehen und voll akzeptiert wird. Die größten Hindernisse sind die in den Köpfen, und die möchten wir in den Kantinen niederschwellig abbauen.“
Auch wenn Schulcafeterien wirtschaftlich schwer zu betreiben sind, spielen vor allem sie bei der Inklusion eine wichtige Rolle. Viele Unternehmen und Schulen teilen den Inklusionsgedanken von antonius und haben sich deshalb bewusst für den Anbieter entschieden. Wobei auch die Regionalität der Produkte und die nachhaltige Kreislaufwirtschaft „vom Feld direkt auf den Teller“ als Grund genannt wird. Oft ergeben sich über das Kantinengeschäft hinaus neue Projekte und wertvolle Kooperationen, die durch das gegenseitig wachsende Vertrauen entstehen. Am Fuldaer Domgymnasium beispielsweise, wo die antonius-Kantine seit zehn Jahren fest zur Schulgemeinschaft gehört, gibt es einen engen Austausch zum Thema Inklusion körperbehinderter Schülerinnen und Schüler.
Zugleich sind Kantinen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderungen keine einfachen Arbeitsorte. Der Kontakt zu den Kundinnen und Kunden ist eng, man muss sehr präsent sein, sich aus seiner Komfortzone heraustrauen und in Stoßzeiten auch mit Stress gut umgehen können. Umso erstaunlicher, dass Melanie Prasch genau in diesem Umfeld ihre Fähigkeiten und Talente so gut entwickeln konnte. „Ich kümmere mich einfach gerne um die Gäste und mag meine Arbeit hier“, sagt sie. „Außerdem ist es ein tolles Gefühl, dass ich alles in meinem Leben alleine schaffen kann. Ich weiß immer: Mir kann nichts passieren – denn im Hintergrund habe ich immer noch antonius und meine gesetzliche Betreuung – aber ich lebe in einer eigenen Wohnung und habe einen ganz normalen Job. Darauf bin ich schon sehr stolz!“